Schule und Hausaufgaben sind – nicht erst seit Home Schooling – ein großes Streitthema in Familien. Was hilft meinem Kind? Was ist meine Verantwortung? Wo ist die Schule in der Pflicht?
Aus meinem Interview mit Barbara Tolliner – Autorin des Buches “Die ambitionierten Eltern und ihre Feinde” – konnte ich fünf wichtige Erkenntnisse mitnehmen.
Susanne: Hallo und herzlich willkommen, liebe Barbara. Unser Thema: Schule, Lernen und was das so mit Familien macht.
Barbara: Hallo Susanne. Danke für die Einladung.
Susanne: Du hast ein Buch geschrieben zum Thema Schule und Lernen, da kommen wir nachher noch drauf zu sprechen. Erstmal: Wie bist du denn zu dem gekommen, was du machst. Und was machst du eigentlich?
Barbara (lacht): Ich bin Lebens- und Sozialberaterin mit den Schwerpunkten Familienberatung und Lernberatung. Wie bin ich dazu gekommen? Durch Zufall! Ich habe im Internet recherchiert und bin auf die Familienberatungsausbildung von Jesper Juul und Helle Jensen gestoßen: Family Counseling.
Jesper Juuls vier Werte haben meine Arbeit geprägt.: Gleichwürdigkeit, Integrität, Authentizität und Verantwortung.Ich habe mich sofort entschieden: Das muss ich machen! Familiy Counseling: 3 Jahre, mein persönlicher Entwicklungsweg als Mensch, als Mutter und natürlich als Familienberaterin.
Susanne: Du hast die Ausbildung dann parallel zu deiner Familienzeit gemacht? Du hast selber auch Kinder?
Barbara: Ja, ich habe eine erwachsene Tochter mit 29 Jahren und ich bin jetzt auch schon Oma von einer wundervollen 3,5 Jahren alten Enkeltochter, von der ich sehr viel lernen kann.
Erkenntnis 1: Die Beziehung zu deinem Kind ist der Schlüssel
Susanne: Wie kann ich mir deine praktische Arbeit vorstellen? Bist du bei Familien gewesen? Oder warst du eher im schulischen Bereich?
Barbara: Ich habe bei der Jugendwohlfahrt [in Deutschland: Jugendamt; Anm.d.R] mit Familien angefangen, die es nicht so ganz einfach haben in ihrem Leben und demnach auch nicht die Kinder. Das war mein Einstieg in die Familien- und Lernberatung. Das war eine wertvolle Lernquelle für mich, denn da habe ich gesehen: Mit meinen Methoden komme ich nicht immer weiter.
Es geht über Beziehung. Beziehung zum Kind, Beziehung zur Familie. Familien können ihre Kinder nur insoweit unterstützen mit all ihren eigenen Erfahrungen, der eigenen Möglichkeiten, mit ihren eigenen Ressourcen.Sie tun ihr Bestes. Auch wenn es nicht gleich zu sehen ist. Sie wollen immer das Beste für ihr Kind und handeln und tun eben so, wie es ihnen möglich ist.
Erkenntnis 2: Frage dich: Wie stehe ich zum Thema „Hausaufgaben“?
Susanne: Du hast erzählt, dass du zu Beginn mit Familien aus der Jugendwohlfahrt gearbeitet hast. Ein Schwerpunkt aus deinem Buch dreht sich um das Lernen und die Schule. Die meisten Eltern reagieren eher allergisch auf das Thema Hausaufgaben. Oft führt es zu Streit und Konflikten in den Familien. Was sind deine Erfahrungen mit dem Thema “Hausaufgaben, Schule und Familie”? Was gibt es da für Schwierigkeiten?
Barbara: Wie du schon sagst: Hausaufgaben – das ist ein wirklich sehr belastendes, sehr herausforderndes, Konflikt beinhaltendes Thema in Millionen von Familien.
Da muss man als Eltern eine Klarheit haben: Wie stehe ich zu dem Thema Hausaufgaben, wie will ich da sein für mein Kind?
Ich kann mich gut erinnern an eine Kollegin, deren Tochter in die Schule gekommen ist – das Mädchen hat Down-Syndrom. Und die Mama hat zur Lehrerin gleich am ersten Tag gesagt, wie sie über Hausaufgaben denkt und wie sie sich einbringen will. Sie hat klipp und klar zur Lehrerin gesagt: Aus den Hausaufgaben halte ich mich heraus. Das ist nicht meine Verantwortung. Sie geben meiner Tochter die Hausaufgabe an und sie schauen auch, dass sie sie bringt. Und wenn es Schwierigkeiten gibt, dann klären Sie das bitte mit meiner Tochter ab. Und wenn ich gebraucht werde, dann bin ich gerne da – mit meiner Meinung und meiner Erfahrung. Die Lehrerin hat es genommen.
Susanne: Das finde ich total krass, dass die Frau sich so klar war. Aus meiner Erfahrung ist das so: Man rutscht da so rein. Hausaufgaben müssen gemacht werden.
Aber ja, ich finde es auch irgendwie schwierig, sie damit allein zu lassen. Und diese Klarheit von dieser Frau, von der du gerade gesprochen hast, die hatte ich nicht. Was kannst du Eltern mit auf den Weg geben?
Erkenntnis 3: Zerstöre auf keinen Fall die Lernlust deines Kindes.
Barbara: Zu wissen, dass Kinder einen wunderbaren Schatz mitbringen mit der Geburt: Nämlich ihre große, große Lernlust. Sie kommen auf die Welt, sie wollen sich entwickeln, sie wollen wachsen, sie wollen über sich hinaus wachsen. Und wir Erwachsenen – Eltern, Lehrer – müssen dafür sorgen, dass diese Lernlust nicht vernichtet wird. Und das passiert leider. Das passiert dann, wenn ich höre: “Ja, das Kind muss motiviert werden.” Dann ist die Lernlust weg. Dann wird es anstrengend. Wenn die Motivation ins Spiel kommt.
Susanne: Zum Thema Hausaufgaben. Siehst du sie ganz klar als eine Aufgabe, die die Institution Schule leisten muss?
Barbara: Ja, die Aufgabe wird von einem Lehrer, einer Lehrerin aufgegeben. Und demnach liegt es auch wirklich im Verantwortungsbereich des Lehrers, der Lehrerin, diese einzufordern. Aber natürlich kann ich dann auch zu meinem Kind sagen: “Du, ich habe heute eine E-Mail von deiner Lehrerin bekommen. Du hast deine Hausaufgabe nicht gemacht. Wie denkst denn du darüber?”
Und das wirklich mit ehrlichem, aufrichtigem, wahrem Interesse. Mit ganz viel Offenheit als Mama und Papa herausfinden zu wollen: Was ist da los? Nicht mit Ratschlägen kommen oder mit Kritik.
Susanne: Welchen Handlungsspielraum haben Eltern, wenn sie sich fragen: Wie kann ich meinen Kind helfen, ohne es zu kontrollieren?
Barbara: Am besten ist es, bevor das Kind in die Schule kommt, Gedanken darüber zu machen, welche Wünsche, Träume und Hoffnungen ich für mein Kind habe. Denn wenn das Kind in die Schule kommt, dann beginnt ein neuer Lebensabschnitt des Kindes. Und auch für die gesamte Familie.
Welche für Ziele habe ich? Was wünsche ich mir für mein Kind?
Und dann, bevor die Schule anfängt, das Kind nicht fragen: “Die Schule beginnt bald. Freust du dich schon auf die Schule?”
Sondern: “Die Schule beginnt bald. Was denkst du darüber?”
Mit offenem, ehrlichem Interesse. Sich wirklich leer im Kopf machen und schauen, was das Kind sagt. Vielleicht kommt im ersten Moment keine Antwort. Dann einfach sagen: “Bitte denk darüber nach. Ich bin wirklich interessiert. Ich möchte es gerne wissen.”
Grundsätzlich freuen sich Kinder auf die Schule. Also, das ist noch immer so. Sie wollen lernen, sie wollen dazu gehören. Sie merken dann nur, wenn es so ist, dass etwas anderes versprochen wurde, wie z.B. am Tag der offenen Tür. Da wurden so viele Experimente gemacht. Da war eine ganz andere Stimmung und dann beginnt die Schule und es ist anders. Das checken sie sofort.
Susanne: Sich darauf vorbereiten, auf die neue Situation. Ich glaube, da nehmen sich viele gar nicht so die Zeit dafür. Schulranzen kaufen und Einschulungsfeier planen – ja. Aber überlegen, wie es dann konkret jeden Tag in der Schule wird? Eher nein. Apropos vorbereiten: Du hast ein Buch geschrieben. Um was geht es in deinem Buch?
Barbara: Mein Buch heißt “Die ambitionierten Eltern und ihre Feinde”. Warum habe ich diesen Titel gewählt? Andreas Salcher hat das erste Buch geschrieben mit dem Titel “Dertalentierte Schüler und seine Feinde”. Er zeigt darin auf, wie das Potenzial vieler Kinder und Jugendlicher vernichtet wird in den Schulen. Daraufhin hat Niki Glattauer, ein österreichischer Lehrer, das Buch „Der engagierte Lehrer und seine Feinde” geschrieben. Und nachdem ich mit Familien, mit Eltern zu tun habe, habe ich mir gedacht: So, und jetzt schreibe ich das Buch und schließe das schulische Dreieck von Schülern, Lehrern und Eltern. Und so bin ich zum Titel gekommen “Die ambitionierten Eltern und ihre Feinde”.
Eltern, aus meiner Sicht, haben noch nie so viel getan für ihre Kinder in Bezug auf Schule.
Wirklich. Auch wenn es nicht immer das Beste ist, weil einfach gewisses Wissen nicht da ist. Weil sie ihre eigenen schulischen Erfahrungen gemacht haben.
Wenn Eltern zu mir kommen und Hilfe und Unterstützung bitten, dann sind sie kompetent – auch wenn sie nicht weiter wissen, wenn sie ohnmächtig sind. Aber: Sie holen sich Hilfe. Und Ich habe acht dialogische Gespräche mit Eltern geführt in Bezug auf Schule und wie sie ihre Kinder unterstützen können.
Jedes einzelne Gespräch war berührend für mich. Und ich habe wirklich einen guten Einblick in Familien bekommen: wie sie denken, wie sie unterstützen, mit welchen Problemen sie zu kämpfen haben.
Susanne: Du hast eine große Bandbreite von unterschiedlichen Gesprächen in diesem Buch festgehalten. Dein Buch ist auch schon vor einer Weile erschienen. Ich glaube, vor etwa 10 Jahren. Was hat sich in diesen 10 Jahren aus deiner Sicht verändert?
Barbara: Schule hat sich nicht besonders viel verändert: Hausaufgaben-Thema, Diskussion um Noten. Schule muss Spaß machen. Macht Schule Spaß? Kinder sind auch realistisch, dass sie wissen: Es gibt Herausforderungen. Sie wissen das, sie wollen leisten. Aber sie wollen sich auch ihren Lernstoff selbstbestimmt aussuchen können, d.h. aber nicht, dass man sie alleine lässt, sondern die Umgebung muss vorbereitet sein.
Erkenntnis 4: Es geht nicht um Noten, es geht um Beziehung
Susanne: Ja, das ist, glaube ich, eine wichtige Erkenntnis. Dass man nicht über die Kinder entscheidet und ihnen vorschreibt, wie es zu gehen hat. Sondern dass man ins Gespräch geht und wirkliches Interesse hat: “Was denkt mein Kind darüber?”
Barbara: Ich bin sehr dafür, dass wir beginnen, Dialoge mit den Kindern zu führen. Das heißt, nicht mit meinen Ratschlägen, nicht mit meinen Erfahrungen zum Kind zu gehen, sondern dass ich einmal schaue, dass ich in einem guten Zustand bin, wenn ich mit dem Kind rede. Wenn ich gut in meiner Mitte bin, wenn ich Zeit habe, wenn ich präsent bin und wirkliches Interesse am Kind habe. Das heißt Zuhören, mein Kind wahrnehmen, sehen, fühlen. Das ist einer der wichtigsten Dinge generell für Kinder in Bezug auf ihr Selbstgefühl.
Ein Kind, das das Gefühl hat: Ich werde wahrgenommen als Mensch und ich bin okay, auch wenn es gerade nicht so okay ist. Das ist eigentlich meine Herzensbotschaft an die Eltern.Es geht nicht um Noten. Es geht um Beziehung und es geht darum, dass die Kinder ein gesundes Selbstgefühl entwickeln.
Und da sein für das Kind, wenn es Hilfe braucht. Aber erst dann, wenn es kommt. Manchmal muss ich vorher eingreifen, wenn ich merke: Die Situation eskaliert. Wenn es wirklich schon notwendig ist. Aber grundsätzlich muss das Kind wissen: Ich gehe zu meiner Mama oder Papa, wenn ich Hilfe brauche. Und reiße als Elternteil nicht diesen Prozess an mich. Da legt man gleich von Anfang an die Basis für ein selbstbestimmtes, selbstorganisiertes Lernen.
Erkenntnis 5: Vertraue deinem Kind
Barbara: Und, was ich gelernt habe – in all diesen Jahren – in der Arbeit mit den Kindern: Ich habe Vertrauen. Ich habe Vertrauen in sie und ihre Fähigkeiten. Und das zu 100 %. Vertrauen, dass sie das Beste in dieser Situation machen. Mit dem, was sie bisher von uns als Mama und Papa mitbekommen haben.
Das heißt aber nicht, dass sie immer das machen, was wir ihnen vorschlagen oder unsere Ratschläge befolgen. Das ist der Punkt.
Susanne: Ja, das ist vielleicht gar nicht so einfach für den ein oder anderen, das loszulassen, was man sich so selbst vorgestellt hat – für jemand anderen.
Barbara: Das ist der Punkt. Es ist schwierig, aber es wird viel einfacher und viel gelassener, wenn ich diese Haltung entwickeln kann, Vertrauen in mein Kind zu haben. Und das wissen wir ja auch aus der Forschung und von vielen wunderbaren Reformpädagoginnen, die dieses Vertrauen in das Kind haben.
Und stell dir mal vor: Ein Kind, das von seinen Eltern spürt: “Wow, die vertrauen mir! Die haben Zutrauen.” Das ist das größte Geschenk für Kinder.
Susanne: Ja. Und falls man das noch nicht so wirklich gut kann, kann man ja mit dir zusammenarbeiten, Barbara. Das ist ja das Schöne. Alle Infos findet ihr später auch noch auf der Webseite, ich verlinke das alles.
Ich danke dir ganz arg, liebe Barbara, für deine Zeit. Und wir hören uns bestimmt bald mal wieder.
Barbara: Sehr sehr gerne. Viel Freude! Und bitte – noch etwas habe ich: Genießt euer Kind, genießt eure Kinder, denn dazu sind sie auch da.
Du willst wissen, wie du als Mutter entspannter mit deiner Situation umgehen kannst? Dann lies meinen Blogbeitrag „5 pragmatische Tipps für sofortige Entspannung“.
Hier noch alle Links und Literaturhinweise zum Interview
- Webseite von Barbara Tolliner: https://www.barbaratolliner.at
- Blick ins Buch: „Die ambitionierten Eltern und ihre Feinde“ – https://www.barbaratolliner.at/ueber-mich/mein-buch/ (Bestellungen – mit Signaturwunsch – direkt an: info@barbaratolliner.at)
- Webseite zu Barbaras Projekt „Wir bauen unsere Schule – Wenn wir nicht sagen, was wir wollen, bekommen wir nicht, was wir brauchen.“ https://unsereschuleblog.wordpress.com/2017/05/09/making_off/
- Jesper Juul: „Dein kompetentes Kind: Auf dem Weg zu einer neuen Wertgrundlage für die ganze Familie“, rororo-Verlag, Berlin, 2009
- Jesper Juul, „Schulinfarkt. Was wir tun können, damit es Kindern, Eltern und Lehrern besser geht“, Kösel-Verlag, München, 2013